Blog Post

Wieviel Geschichte braucht Europa?

Boris Kálnoky • Aug. 20, 2019

Der 20. August uns seine Bedeutung für Ungarn

Jedes Jahr am 20. August vergewissern sich die Ungarn, dass ihr Staat noch rechtens regiert wird. Vor der Stefansbasilika in Budapest versammeln sich Tausende Menschen, alle Bischöfe des Landes zelebrieren gemeinsam mit dem Fürstbischof eine Messe und schwärmen dann aus, um den dicht gedrängten Gläubigen den Leib Christi zu verabreichen. Und dann wird in langer, feierlicher Prozession ein sehr alter Knochen auf einer Sänfte durch die Stadt getragen: Die „Szent Jobb“, die heilige rechte Hand des ebenso heiligen Gründerkönigs Stefan. Der goldenen Schatulle, in der sie liegt, folgen in farbenprächtiger Volkstracht Gesandtschaften aus allen möglichen Orten, wo Ungarn leben, und wer immer ansonsten den Drang verspürt, sich anzuschließen.

Es ist nämlich so: Nur wenn die knöcherne Hand im Land ist, kann es legitim geführt werden - zumindest sah man es im Mittelalter so. Auch die Krone des Reichsgründers muss da sein. Gegenwärtig ruht sie in einem Glaskasten im Parlament, vor dem an diesem Tag die neuen Offiziere der Armee vereidigt werden.

Es ist eine Sache, die wohl nur Ungarn so richtig verstehen: Die Essenz des Staates liegt nicht im Volkswillen, nicht im Parlament, nicht beim Staatspräsidenten, sondern in den Reliquien des Königs, der das ungarische Königreich im Jahr 1000 gründete. Die Krone dazu gab der Papst. Nur weil die Habsburger sie an sich nahmen, nach Ungarns Niederlage gegen die Türken in der Schlacht von Mohács 1526, konnten sie sich „apostolische“ Herrscher nennen.

Im Jahr 2019 ist natürlich manches anders als 1526. In der Verfassung sind diese Dinge nicht mehr enthalten, aber in der politischen Kultur wirken sie nach. Der gegenwärtige Primas, Péter Erdö, nennt sich nicht mehr Fürst – in früheren Zeiten hieß der höchste kirchliche Würdenträger deswegen so, weil es ihm auferlag, das Land in Krisenzeiten zu führen, sollte es ansonsten führungslos sein.

Und dennoch. Ungarns Verfassung, grundlegend umgeschrieben im Jahr 2010 auf Wunsch von Ministerpräsident Viktor Orbán, bezieht sich ausdrücklich auf den Gründerkönig Stefan und sein eminent politisches christliches Erbe. Wenn Ungarns Regierung „Europa“ sagt, meint sie genau dies. Vor Stefan waren die Magyaren zentralasiatische, schamanistische Reiterkrieger. Nach ihm waren sie christliche Europäer. Der Akt der Bekehrung war der Akt des Eintritts in die europäische Staatenfamilie.

Stefans Rechte gibt also eine klare Richtung vor: Europa!

Es ist freilich ein Europa, das von Geschichte und Heiligen Königen nichts mehr wissen möchte. Auf Ungarns Verfassung zeigt man in Brüssel wie auf einen Schandfleck der EU. Das geschichtsbewusste Ungarn wird als Fortschrittsbremse empfunden, und mit ihm die ähnlich denkenden anderen Völker im Osten Europas. Denn zum historischen Erbe, zu dem sie sich bekennen, gehört der Nationalstaat, die Nation selbst und eine christliche Identität, zu der beispielsweise muslimische Einwanderer schlecht passen.

„Für Technokraten in Brüssel wäre es natürlich leichter, eine neue, „europäische Identität“ zu fördern, wenn da nicht die historisch gewachsenen nationalen Identitäten der Menschen wären“, sagt Norbert Pap von der Universität Pécs. „Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass gerade die Deutschen, die ihre Geschichte eher als Last empfingen, so empfänglich sind für die Idee einer ganz neuen europäischen, postnationalen Identität“.

Der Historiker Balázs Ablonczy bringt es auf den Punkt: „Die ungarische Hymne zu hören und dabei auf die ungarische Fahne zu schauen – oder eben die französische Hymne und die französische Fahne, oder die englische – da verspürt man etwas als Ungar, Franzose oder Engländer, das bewegt, das setzt Emotionen frei. Aber man spürt nichts wenn man die EU-Hymne hört und die EU-Fahne sieht. Das wird sich auch nie ändern. Was uns zusammenhält, ist die gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur.“

Paps Forschungsgebiet liegt an der Grenze zwischen Archäologie, Geografie und politischer Erinnerungskultur – er entdeckte mit seinem Team vor einigen Jahren die Todesstätte von Sultan Süleyman, genannt „der Prächtige“, der während der Belagerung von Szigetvár in Südungarn 1566 starb.

„Die Erinnerung an die Türkenkriege wirkt bis heute in den Köpfen der Menschen nach“, sagt Pap. Dabei sei nicht wichtig, was geschah – „viele Ungarn kämpften auf der Seite der Osmanen, und bei der Schlacht von Mohács 1526 standen auf der ungarischen Seite zahlreiche tschechische und deutsche Söldner“ – sondern wie man sich daran erinnert. In Szigetvár verloren die Ungarn heldenhaft und starben für das christliche Europa, in Mohács wurden sie vernichtet weil „Europa sie im Stich ließ“ – so wird es erinnert, auch wenn die Wahrheit komplizierter ist.

Und tatsächlich. „Wir sind Ungarn. Wir haben gegen die Türken gekämpft. Und wir sind noch immer da. Wir verdanken unseren Vorfahren viel“, sagt ein 86jähriger Rentner in Budapests 13. Bezirk. Er steht an einem Wahlkampfkiosk der Sozialistischen Partei, die „für Europa“ wirbt und sich damit von der national gesinnten Rhetorik der Regierungspartei Fidesz absetzt. Aber dieser Sozialist – seinen Namen will er nicht nennen – definiert seine ungarische Identität durch den Kampf gegen die Türken. Links wählt er, weil er Zeit seines arbeitenden Lebens Fabrikarbeiter war. „Der ganze Bezirk“, sagt er. „Hier waren in der sozialistischen Zeit viele Fabriken, hier wählen bis heute alle links.“

Auch das ist Geschichte. Die Fabriken gibt es längst nicht mehr, aber der 13. Bezirk ist immer noch rot.

Einige Dinge ändern sich nie. Mohács, davor der Mongolensturm, die Nazis, die Habsburger, die Teilung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Trianon, die Russen und der Aufstand gegen sie 1956, all das hat einen gemeinsamen Nenner: Ungarn wurde historisch immer zerrieben zwischen den Großmächten. „Dem Gras ist es einerlei, ob die Elefanten darauf gegeneinander kämpfen oder sich darauf paaren, es wird so oder so platt gemacht“, sagt der Sicherheitsexperte István Gyarmati. Und die EU ist ein klarer Fall von Elefant. So wird es in Ungarn zumindest wahrgenommen – weil das Geschichtsbewusstsein der Magyaren die Sicht schärft nicht nur für die guten Absichten der Europäer, sondern auch für deren Macht, Ungarn zu Dingen zu zwingen die man nicht will. Stichwort Migration, Muslime, Einwanderung. Die Massen, die da nach Europa drängen, sind für viele wie ein neuer Mongolensturm oder Osmanen-Heerzug.

Ein wenig Schizophrenie ist dabei, denn viele Ungarn sind stolz auch auf ihre asiatischen Wurzeln. Jeden August wird nicht nur die Staatsgründung und König Stefans Heilige Rechte zelebriert, beim einem Dorf namens Bugac findet auch ein sogenannter Kurultáj statt – eine „Zusammenkunft der Stämme“. Aus der Türkei, aus Kasachstan und der Mongolei, aus Bulgarien, Japan und allen möglichen Ländern und Volksgruppen und vor allem natürlich aus Ungarn kommen da „Traditionsbewahrer“ zusammen, schwingen sich auf Pferderücken und spielen in nomadischer Kriegerausstattung Reitervolk. https://www.youtube.com/watch?v=cEAXfozOz4I Balázs Ablonczy erzählt, wie einmal in seiner Wohnung ein neues Fenster eingesetzt werden musste, und ein Arbeiter der Glasertruppe entpuppte sich als Mitglied einer solchen Reitergruppe. „Das unterscheidet uns von anderen Ländern“, sagt er. „Ich glaube nicht, dass ich das ohne weiteres in Deutschland erlebt hätte – dass ein Glaser kommt der in seiner Freizeit als Germanenkrieger durch die Gegend zieht.“

Auch das ist eine Sehnsucht nach historischen Wurzeln, ähnlich tief wie die nach König Stefan. Es ist die Besinnung auf seinen großen Rivalen, seinen Onkel Koppány. Der wollte bei den alten heidnischen Gebräuchen bleiben und forderte nach dem Brauch Steppenvölker den Thron für sich, weil er der älteste lebende Mann war aus dem Fürstengeschlecht der Arpáden. Stephan war König nach dem neuen, christlichen Gebrauch der Primogenitur, er war der älteste Sohn des vorangegangenen Fürsten Géza.

Stephan gewann, mit der Hilfe deutscher Ritter, und ließ Koppány hinrichten. Aber die Erinnerung an die heidnischen, zentralasiatischen Ursprünge der Magyaren spielt bis heute eine Rolle in deren politischer Kultur. Da ist etwas in den Köpfen und Herzen das sagt: Wir sind nicht nur Europäer. An vielen ungarischen Schulen gibt es AGs – Arbeitsgemeinschaften interessierter Schüler – um die Runenschrift der alten Hunnen zu lernen. Hunnenkönig Attila, dessen Reiterkrieger Europa im 5. Jahrhundert heimsuchten, betrachten viele Ungarn als Vorfahren der Magyaren, obwohl er das wohl nicht war. Die Hunnen waren ein Turkvolk. „Dabei ist das eine neumodische, quasi erfundene Runenschrift, was die Leute sich heute beibringen“, sagt Ablonczy. „Wer diese Runen lernt, wird alte runische Inschriften nicht lesen können – es sind ganz andere Buchstaben“.

Ablonczy hat ein Buch über diese Sehnsucht der Ungarn nach ihren asiatischen Wurzeln geschrieben: „Nach Osten, Ungar!“ Fazit: Da ist viel Eskapismus in der Faszination mit den nomadischen Ursprüngen der Magyaren. „Meistens kommt es in Krisenzeiten auf“, meint er. Als „Turanismus“, Schulterschluss aller Turkvölker, wurde dies zu einer kulturpolitischen Bewegung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute ist es eine Idee, die vor allem die extreme Rechte anzieht. Beim Kurultáj ist die rechte Jobbik-Partei immer besonders präsent. Bis heute gilt: Wer Koppány besser findet als König Stephan, der steht der EU meist skeptischer gegenüber als jemand der auf den Gründerkönig schwört, schon deswegen, weil Stephan nur mit Hilfe deutscher Ritter siegte.

Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir, wo ist unser Platz in Europa? Antworten auf diese Fragen suchen viele Ungarn in ihrer Geschichte, auch jene, die nicht unbedingt an alten Traditionen festhalten wollen. Die 20jährige Politik-Studentin Fruzsina Barcikai stöbert nach alten Büchern in einem Budapester Antiquariat. „Geschichte ist wichtig, denn wenn wir daraus nicht lernen, wiederholen wir unsere Fehler“, sagt sie. Auch sie führt die Türkenzeit an: „Wir klagen gerne über die osmanische Besatzung, aber die Osmanen haben uns die türkischen Bäder gebracht und kulturelles Erbe, von dem wir heute profitieren“, sagt sie. „Es zieht Touristen an.“ Den Nationalstaat findet sie überholt – „ich kann mir durchaus ein föderales Europa vorstellen“.

Ähnlich sieht es Tamás Réti, ein Volkswirt: „Die moderne Kommunikationstechnologie hat eine globale Wirtschaft geschaffen“, sagt er. „Da muss auch die Politik global werden – der Nationalstaat wird dafür zu klein.“ Auch er findet Geschichte wichtig, um aus ihr zu lernen. Auch, um zu erkennen, wann eine Regierung historische Bezüge politisch manipuliert: Er verweist auf das Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkrieges, das die Regierung von Viktor Orbán errichten ließ. Da stürzt sich ein furchterregender deutscher Adler auf das unschuldige Ungarn, als Engel dargestellt. Die Botschaft (so Réti): Nicht wir haben unsere Juden umgebracht, die Deutschen waren es.

Tatsächlich arbeitet keine Regierung in Europa so gezielt am Aufbau eines positiven historischen Narrativs wie die Regierung Orbán. In den letzten Jahren wurden zahlreiche neue Denkmäler des Regenten Miklós Horthy errichtet, der nach dem Ersten Weltkrieg dem Chaos der Räterepublik Einhalt gebot, das Land danach aber in den Zweiten Weltkrieg führte. Das Parlamentsviertel und das Burgviertel in Budapest wurden umfassend restauriert. Orbán verlagerte das Ministerpräsidentenamt vom Parlament ins einstige Karmeliterkloster auf dem Burgberg.

Dort führt er jeden Gast auf den Balkon und zeigt den wunderbaren Blick auf Budapest. „Sehen Sie das?“, fragte er bei einer solchen Gelegenheit den Verfasser dieser Zeilen, und ließ seine Hand über die Skyline schweifen. „Budapest sieht heute ungefähr so aus wie vor hundert Jahren. Obwohl die meisten Gebäude bei der Belagerung durch die Russen 1944/45 zerstört wurden.“

Es folgt eine Kunstpause. „Der Wiederaufbau erfolgte größtenteils in den fünfziger Jahren“, erzählt Orbán. „Sogar die ungarischen Kommunisten verstanden, wie wichtig die Geschichte ist und wollten unbedingt am alten Stadtbild festhalten, statt etwas ganz neues zu errichten.“

Es ist seine Art, die Bedeutung der Geschichte zu betonen. Der Balkon, auf dem wir stehen, ist allerdings ganz neu. Orbán hat ihn zum Ärger aller Denkmalschützer einfach an die altehrwürdige Fassade anbauen lassen, um den Blick auf das historische Stadtbild besser genießen zu können.



Share by: