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Visegrád: Hintergrund zur V4-Kooperation

Boris Kálnoky • Aug. 25, 2019

Hintergrund zur V4-Kooperation

In den von Euro- und Flüchtlingskrise geprägten letzten paar Jahren gab es eigentlich nur eine wirkliche Erfolgsgeschichte in der EU: Die Herausbildung der einst irrelevanten Visegrád-Gruppe mitteleuropäischer Länder („V4“ – Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) zu einem maßgeblichen Akteur der europäischen Politik.

Wer weiß, wie die europäische Asylpolitik heute aussähe ohne den kraftvollen Widerstand der Mitteleuropäer gegen Willkommenspolitik und Umverteilungsquoten. Aber auch in anderen Bereichen hat die Kooperation dieser Länder an Schwung und Kontur gewonnen: Verteidigung, Energie, Infrastruktur, Finanzen, Kultur. Doch wie kam es dazu und funktioniert die V4-Gruppe überhaupt?

Im Jahr 1991 beschlossen die damals noch drei Länder (die Tschechoslowakei war noch nicht zerfallen) enger zusammenzuarbeiten, um gemeinsam die Vorbereitungen für den geplanten EU-Beitritt besser zu meistern. Nachdem das erreicht war, wurde die Gruppe eher bedeutungslos. Jedes Land für sich bemühte sich mehr um gute Beziehungen zu Deutschland als um gute Beziehungen zu einander. Deutschland wiederum war immer bestrebt, eine Blockbildung in der EU zu verhindern, um das eigene politische Gewicht in Europa möglichst zu steigern.

Aber die Euro- und Flüchtlingskrise änderte alles. Die V4-Staaten erkannten, dass die EU in Wahrheit eine radikale, potentiell gefährliche Experimentierküche ist, in der Zauberlehrlinge leichtfertig folgenschwere Formeln aussprechen. Sie suchten einen Selbstverteidigungsmechanismus, um ihre Interessen in dieser revolutionären, unberechenbaren EU besser zu verteidigen. Aus der irrelevanten V4-Gruppe wurde ein neuer Machtfaktor in Europa. Wie haben die vier Länder das geschafft, welche Mechanismen und gemeinsamen Strukturen geben ihnen Zusammenhalt, während der Rest Europas ständig streitet?

Von außen sieht es aus wie eine Mini-EU, nur ohne Bürokratie. Es gibt eine rotierende jährliche Präsidentschaft, wie der halbjährliche EU-Ratsvorsitz. Seit 1. Juli hält die Slowakei den Vorsitz, davor war es Ungarn. Das jeweilige Land arbeitet für das jeweilige Jahr ein Schwerpunktprogramm aus, das sich an der langfristigeren V4-Strategie orientieren sollte, immer besser in immer mehr Bereichen zu kooperieren. Ebenfalls wie bei der EU.

Was es nicht gibt, ist eine gemeinsame Quasi-Regierung wie die EU-Kommission und ein gemeinsames Parlament wie das Europaparlament. Die Visegráder halten den demokratischen Nationalstaat für das höchste Gut in der Politik. Transnationale politische Strukturen wie die EU-Kommission oder das Europaparlament können den Staat in ihren Augen nur schwächen. Das wollen sie nicht.

Ein wenig ist die Visegrád-Gruppe also so, wie die Visegráder die EU gerne hätten. Aber bei aller EU-Kritik ist die V4-Kooperation selbst ganz europäisch im Geist: Stärke durch transnationale Vernetzung und Zusammenarbeit.

Zur Staffelübergabe, jeweils im Juni, findet ein jährliches Gipfeltreffen der vier Ministerpräsidenten statt, dem stets ein vorbereitendes Treffen der stellvertretenden Außenminister vorangeht. Die Regierungschefs treffen sich aber auch sonst, je nach Bedarf, oft um vor wichtigen EU-Gipfeln eine gemeinsame Position abzustecken. Auf diese Weise haben die Mitteleuropäer in den europäischen Gremien viel mehr Gewicht als jedes der einzelnen Länder es für sich genommen hätte.

In diesem Jahr gesellte sich Österreichs Ministerpräsident Sebastian Kurz zum V4-Gipfel am 21. Juni in Budapest. Das war ein sichtbarer Ausdruck dessen, dass die V4 mehr sein wollen als nur eine Gruppe von vier Ländern. Sie wollen auf die ganze Region ausstrahlen, auch jenseits der Grenzen der EU – etwa auf dem Westbalkan oder in der Ukraine.

Für die enge strategische Kooperation mit ausgewählten Partnerländern, in spezifischen Politikbereichen, haben sich die Visegráder das Format „V4+“ ausgedacht. Beispielsweise in der Energiepolitik, wo es darum geht, über sogenannte Interkonnektoren die Gasnetzwerke der einzelnen Länder besser zu vernetzen, und eine Infrastruktur für Flüssiggas aus den USA auszubauen um unabhängiger zu werden von russischen Gaslieferungen. Dazu kooperieren die V4 unter anderem mit Österreich, Bulgarien und Slowenien.

Der sichtbarste Bereich der V4-Kooperation ist die Grenzsicherung gegen illegale Einwanderung. Auch das erfolgt im Format V4+, in Kooperation mit Bulgarien und den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien. Die V4 halfen Mazedonien, seinen Grenzzaun zu bauen, und wollen nun auch Montenegro helfen seine Grenze zu Albanien zu sichern. V4-Grenzschützer patrouillieren seit 2015 an diversen Grenzen der Balkanroute.

Der wichtigste Mechanismus solcher Kooperationen besteht aus Treffen der V4 mit den jeweiligen Partnerländern auf Ministerebene. Dort beschlossene gemeinsame Projekte werden dann auf der Ebene der Staatssekretäre vertieft. Zusätzlich gibt es von Zeit zu Zeit gemeinsame Treffen der Staats- oder Regierungschefs im V4+ Format wie jetzt mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz – oder im Juli 2017 mit Israels Ministerpräsident Benjamin Nethanjahu.

Eine Erweiterung der Visegrád-Gruppe selbst lehnen die Mitteleuropäer aber grundsätzlich ab. Sie haben die Erfahrung gemacht dass sie gut miteinander können, egal wer in den jeweiligen Ländern gerade an der Macht ist. Die Regierungsparteien der vier Länder gehören vier verschiedenen Fraktionen im Europaparlament an: Fidesz (Ungarn) zur christdemokratischen EVP, ANO (Tschechien) zu den Liberalen (ALDE), die slowakische Smer-SD zu den Sozialisten (PES) und Polens PiS gehört zur Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (AKRE). Dennoch agieren die vier Regierungen auf der europäischen Ebene weitgehend gemeinsam.

„Im Vergleich zur EU ist bei den V4 der persönliche Kontakt viel wichtiger als der institutionelle Ausbau der Kooperation“, sagt Ágoston Mráz vom regierungsnahen Think Tank Nézöpont. „Obwohl die vier Regierungen ganz unterschiedlichen Parteienfamilien angehören, haben ihre Politiker erkannt, dass sie einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, ein ähnliches Denken, letztendlich gemeinsame Werte jenseits aller Parteilinien haben.“ Diese Werte sind Mráz zufolge „christliche Kultur und Lebensstil im weitesten Sinne (nicht die Religion selbst), das nationale Interesse als Richtwert der Politik und die Suche nach gesellschaftlichen Mehrheiten für die wichtigsten Themen ihrer Politik.“ Insofern seien alle vier Regierungen, meint Mráz, letztlich „kulturell christdemokratisch“.

Es gebe zwar auch genügend Institutionen und immer mehr sichtbare Struktur in der V4-Kooperation, letztlich ist funktioniert die Gruppe aber „von oben nach unten“, gesteuert von den Regierungschefs und ohne die für die EU typische bürokratische Eigendynamik.

Letztlich hängt also alles von vier Personen ab: die vier Regierungschefs. Das kann problematisch werden, wenn in dem einen oder anderen Land Wahlen einen Machtwechsel bringen. Etwa wenn in Tschechien oder Polen eines Tages wieder „EU-konforme“ Parteien regieren sollten. Vorerst ist es aber vor allem eine Stärke: Die Entscheidungsfindung funktioniert viel schneller als in den EU-Gremien.

Dass es nicht nur schnelle, sondern oft auch sehr kluge und originelle Entscheidungen sind, liegt zum Teil daran dass die Gruppe im Jahr 2012 acht große Think Tanks der Region zu einer vernetzten Platzform „Think Visegrád“ verflocht. Sie alle arbeiten mit Hochdruck daran, die V4 bei Themen von Wirtschaftsstrategien über Roma-Integration bis hin zu Fragen der inneren Kohäsion der Visegrád-Gruppe zu beraten. Zusätzlich unterstützen nationale Think Tank wie die ungarischen „Nézöpont“ und „Századvég“ ihre Regierungen intensiv bei Fragen der V4-Kooperation.

Einige Denkansätze aus diesen Ideenfabriken: Weniger Bundesbank-Anleihen kaufen, dafür verstärkt gegenseitig Staatsanleihen der V4 – das bringt mehr Zinsen und mehr Unabhängigkeit von Deutschland und stützt die eigenen Wirtschaften. Oder: Gemeinsam eine Finanztransaktionssteuer in der EU fordern, um damit beim nächsten EU-Haushalt die Ausfälle aus dem Brexit auszugleichen und so die Zuwendungen aus dem EU-Kohäsionsfonds für die V4 zu erhöhen. Gegenwärtig plant die EU keine Erhöhung, sondern eine drastische Reduzierung der Mittel für die Region.

Dass die V4 sich auch bei divergierenden Interessenlagen einigen können, war beim V4-Gipfel im Juni zu beobachten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zuvor einen „Mini-EU-Gipfel“ zur Asylpolitik organisiert, vor der offiziellen Sitzung des Europäischen Rates der Regierungschefs. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis hatte anfangs erklärt, er wolle auf jeden Fall zum Merkel-Treffen – aber beim V4-Gipfel in Budapest ließ er sich überreden, seine Meinung zu ändern. Die V4 „boykottierten“ dann demonstrativ die Merkel-Runde, weil solche Begegnungen ihrer Meinung nach EU-Recht aushöhlten. Wenn EU-Regierungschefs EU-Themen besprechen, dann sollte das nach Auffassung der Visegráder ausschließlich im Rahmen des Europäischen Rates erfolgen, auf Einladung von Ratspräsident Donald Tusk – nicht auf Einladung von Angela Merkel und im Beisein des EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker.

Für die alltägliche, technische Zusammenarbeit gibt es bei jeder V4-Regierung einen Visegrád-Koordinator, meistens direkt beim Ministerpräsidenten angesiedelt. Diese Technokraten spielen eine Schlüsselrolle im Informationsfluss zwischen den Regierungen.

Ansonsten gibt es noch gelegentliche Treffen der V4-Staatsoberhäupter und eine begrenzte Kooperation auf parlamentarischer Ebene, beides auch im Format V4+ mit anderen Partnerländern. Neuerdings bemühen sich die Mitteleuropäer auch verstärkt, in internationalen Gremien gemeinsam aufzutreten (Nato, UN, OSZE usw.) - parallel und manchmal in Widerspruch zur EU, obwohl sie deren Mitglieder sind.

So viel Einigkeit erstaunt um so mehr, als es erhebliche Interessenunterschiede zwischen den vier Ländern gibt. So sehr dass europäische und deutsche Experten oft sagen, die V4-Kooperation sei eigentlich so etwas wie eine Fata Morgana: Sieht nach etwas aus, da ist aber nur heiße Luft. Manche sprechen spöttisch von den „V2+2“ statt „V4“ – auf der einen Seite Polen und Ungarn, auf der anderen Tschechien und die Slowakei, die viel stärker zu einer politischen Anbindung an Deutschland neigten als zu Kooperation miteinander.

Da ist auch etwas dran: Die Slowakei gehört zur Eurozone und will Teil eines „Kerneuropa“ sein, sollte es denn jemals zu einer Ausdifferenzierung kommen in ein integrierteres „Kern“- und ein weniger eingebundenes „Randeuropa“. Die Polen ihrerseits sind dezidiert antirussisch - die drei anderen Visegrás-Länder wollen engere Beziehungen zu Russland.

„Wir versuchen immer, diese Differenzen durch Arbeitsteilung zu lösen“, sagt ein ungarischer Diplomat. Beispielsweise gebe es Spannungen zwischen Ungarn und der Ukraine und erst recht mit Rumänien wegen der dortigen ungarischen Minderheiten, deren Interessen Budapest immer am Herzen liegen. Ungarn kann also schlecht der V4-Ansprechpartner sein für diese Länder – der Dialog würde nicht funktionieren. „Wir lösen dass so dass wir es Polen überlassen, die Kontakte der V4 mit der Ukraine und Rumänien zu pflegen“, sagt der Diplomat. Ungarn hingegen habe exzellente Kontakte zu den Westbalkanstaaten und übernehme daher die Führungsrolle bei den V4 in diesem Bereich der Kooperation.

Martin Michelot vom Prager „Europeum - Institut für Europäische Politik“ (Mitglied der vorhin erwähnten „Think Visegrád“-Plattform führender Think Tanks der Region) nennt diese flexible Art der Visegrád-Kooperation die „Kunst der Uneinigkeit“, deren Essenz darin besteht, „mit Differenzen behutsam umzugehen und gleichzeitig gemeinsame Positionen zu stärken“. Michelot zufolge kann man die Art und Weise, wie die V4 funktionieren, exemplarisch in der Verteidigungspolitik erkennen – der wohl sichtbarste Bereich der Visegráder Politik, abgesehen von der gemeinsamen Front in der Migrationspolitik.

Es gibt seit 2016 eine gemeinsame V4-„Battlegroup“ unter polnischer Führung, entstanden als Antwort auf Russlands Aggression gegen die Ukraine 2014. Zusätzlich rotieren nationale Einheiten der V4-Länder in Kompaniestärke in den baltischen Staaten im Rahmen gemeinsamer Militärübungen.

Es gibt Differenzen: „Die Polen würden die Battlegroup am liebsten gegen die Russen positionieren, Ungarn lieber zur Grenzsicherung auf dem Westbalkan“, sagt Zoltán Kiszelly vom regierungsnahen ungarischen Think Tank Századvég. Dazu passt, dass ab 2019 auch Kroatien im besten „V4+“-Stil einen Beitrag zur Kampfgruppe leisten wird.

Die bloße Existenz der Einheit ist aber ein Pfund, mit dem man politisch wuchern kann: Es gefällt den Amerikanern, die mehr Engagement und mehr Rüstungsausgaben von den Nato-Partnern fordern, es gefällt den Europäern, die ebenfalls mehr Anstrengungen in der Verteidigungspolitik unternehmen wollen, und es passt die in Innenpolitik der V4-Länder, weil die Polen es als Instrument gegen Russland darstellen können, die anderen als Instrument mitteleuropäischer Eigenständigkeit und Wehrhaftigkeit auch bei der Grenzsicherung. Die Interessenunterschiede werden also ausgeklammert, die Gemeinsamkeiten hervorgehoben.

Die einzige permanente institutionelle Basis der V4-Kooperation ist der im Jahr 2000 gegründete und in Bratislawa angesiedelte Visegrád-Fund, ein gemeinsamer Geldtopf für Projekte die dazu dienen sollen, die vier Länder enger aneinander zu binden, sowie deren Kooperation mit anderen ostmitteleuropäischen Ländern zu fördern. Es ist rein finanziell eine relativ bescheidene Angelegenheit. Jährlich acht Millionen Euro, dazu kommen gelegentlich bescheidenere Zuwendungen aus Deutschland, den USA, der Schweiz, Kanada und einigen anderen Ländern.

Mit seinen bescheidenen Mitteln entfaltet der Visegrád-Fund aber eine höchst sichtbare Aktivität, mit Forschungsprojekten und einer Vielzahl kultureller Veranstaltungen, die ausdrücklich dem Zweck dienen sollen, eine gemeinsame mitteleuropäische Identität zu stärken – nicht viel anders als das Bestreben der EU, mit großzügigen Fördermitteln eine gemeinsame Europäische Identität zu stärken. Auch die „Think Visegrád“-Plattform acht großer Think Tanks der Region ist beim Visegrád Fund angesiedelt.

Auch hier ist die Struktur sehr politisch. Entscheidungen des Visegrád-Fund werden auf einer jährlichen Konferenz der V4-Aussenminister getroffen, die Umsetzung dann von einer Konferenz der V4-Botschafter überprüft.

Letztendlich ist die einzige neue, sichtbare und dauerhafte Struktur der V4 in den letzten Jahren ihre beim Visegrád-Fund angesiedelte Denkfabriken-Plattform „Think Visegrád“. Das ist Teil der Antwort auf die Frage, was die Visegráder in den letzten Jahren so stark gemacht hat: Nicht gemeinsame Strukturen oder transnationale Bürokratie, sondern kluges Denken jenseits der Schablonen. Die EU könnte davon lernen, wenn sie wollte.


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