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8. Mai 2020: 75 Jahre Kriegsende aus heutiger Perspektive

Ulrich Schlie • Mai 08, 2020
Welche Relevanz hat das Kriegsende von 1945 für junge Menschen in Europa? Das Bewusstsein, an einem Wendepunkt zu stehen, ist gerade aufgrund der andauernden Pandemie ausgeprägt. Ein Wendepunkt besonderer Art war die Zäsur des Kriegsendes in Europa vor 75 Jahren. Erst aus dem Abstand können wir ermessen, was ein einzelnes Ereignis für den Gang der Geschichte und für unsere Gegenwart bedeutet. Nur aus der Betrachtung der Vergangenheit können wir Schlussfolgerungen für die Staatenbeziehungen ableiten, und nur im Wissen um das, was vor uns war, unsere Gegenwart begreifen. 

Der 8. Mai 1945 war zunächst ein Endpunkt. Der Blick zurück nimmt nochmals die Dimension des Einschnitts ins Visier, den der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg für die Staatenwelt, v.a. aber für Europa bedeutete. Wie am Ende aller großen Kriege – 1648, 1715, 1815, 1918 – wurde die Verschiebung der Kräfte auch nach außen sichtbar. Es brauchte dazu nur wenige Jahre, grosso modo die Zeit zwischen 1944 und 1947. Im April 1945 verstarb der amerikanische Präsident Roosevelt, wurde Mussolini hingerichtet und schied Hitler freiwillig aus dem Leben. An die Stelle der „Großen Drei“ von Jalta, Februar 1945, – Roosevelt, Churchill und Stalin – trat am Ende der Konferenz von Potsdam, August 1945, das Triumvirat Truman, Attlee, Stalin. Die Kriegskoalition, die das nationalsozialistische Deutschland besiegt hatte, war immer nur eine Anti-Hitler-Koalition gewesen. Als Hitler nicht mehr war, fehlte auch das einende Band. Deutschland war jetzt Objekt der Sieger und Streitgegenstand. Die amerikanischen Verbände waren bis zur Linie Wismar-Magdeburg-Leipzig-Mulde vorgedrungen. Eisenhowers Truppen standen in weiten Teilen Mecklenburgs, in den preußischen Provinzen Sachsen und Anhalt, in Thüringen und Sachsen. Doch Roosevelts Nachfolger Truman konnte sich nicht zu einer Politik der Faustpfänder durchringen, der strategische Gewinn wurde Anfang Juli durch freiwilligen Rückzug zugunsten der Räumung der Westsektoren Berlins aufgegeben. 

In Ungarn hat die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs besondere Spuren der Verwüstung und des Blutzolls hinterlassen, die als nationales Trauma lange fortgewirkt haben. Zugleich ist mit der sowjetischen Besatzung eine neue Phase der Unfreiheit eingeleitet worden, die erst mit der Auflösung der Ordnung von Jalta nach den europäischen Revolutionen des Jahres 1989 ihren Abschluss gefunden hat. Auch hier sind Nachwirkungen bis in die Gegenwart zu sehen. 

Der Kriegsverlauf seit Anfang 1945 hatte die Ausgangslage der Westmächte gegenüber der Sowjetunion deutlich verbessert, ohne dass sich dies auf die im September 1944 festgelegte Zonenaufteilung ausgewirkt hat. Früher als die Amerikaner kam der britische Premier Churchill zu einer düsteren Beurteilung der Sowjetunion. Er dachte in Kategorien klassischer Gleichgewichtspolitik im Stil der balance of power. Jetzt, wo sein alter Widersacher Hitler bezwungen war, galt seine Hauptsorge der sich abzeichnenden Nachkriegskonstellation. Im Juli 1945 hatten die Briten seine Konservative Partei abgewählt. Labour hatte dabei auch mit der Parole „Left understands left“ um einen außenpolitischen Schulterschluss mit Stalins Sowjetunion geworben. Das britische und das amerikanische Deutschlandbild im Sommer 1945 war diffus, es fehlt vor allem eine klare Analyse der Gegenwart und eine realistische Nachkriegsplanung. 

Ungewiss war vor allem die Zukunft Europas. Das Projekt der europäischen Integration ist zwar älter als der Zweite Weltkrieg, doch durch die verheerenden Folgen der politisch-militärischen Zerstörung des alten Kontinents blieb Europa nach 1945 nichts anderes übrig als die Bündelung der Kräfte durch Integration. Hitler selbst hatte durch sein Hegemonialstreben und den Primat der Gewalt einen wesentlichen Anteil an der Zerstörung Europas. Konnte aber Europa ohne eine intakte Mitte dauerhaft lebensfähig sein? In Europa hatte Hitler den Krieg im Sommer 1939 entfesselt, im Mai 1945 war Europa eine Trümmerlandschaft, der Krieg in Europa im wahrsten Sinn des Wortes ausgekämpft. Der 8. Mai wurde von den Alliierten zum Victory in Europe-Day proklamiert, ein Sieg für Europa war er am wenigsten. Ein Eiserner Vorhang war von der Ostsee bis zum Mittelmeer niedergegangen. Europas Herz, Deutschland, war gevierteilt. Deutschland lag am Boden, weil Hitlers Regime niedergeworfen werden musste, mit positiver Nachkriegsplanung darf dieses vorrangige Ziel der ungleichen Partner der Anti-Hitler(!)-Koalition nicht verwechselt werden. Und Deutschland war auch nach Kriegsende ideologisches Kampfgebiet.

Welche Lehren können wir ziehen?
Der Zweite Weltkrieg bleibt zunächst als Mahnung an die Lebenden. Zu Recht hat deshalb Nadeshda Mandelstam 1971 das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Wölfe bezeichnet. Schon früh war in der Schreckensvision „1984“ von George Orwell, Teilnehmer des spanischen Bürgerkriegs, und der Ideologiekritik des polnisch-israelischen Historikers Jacob Talmon der Blick auf die ideologische Mobilisierung gerichtet worden. Das "Nie wieder" wurde seit 1945 in Kunst, Musik und Literatur in zahlreichen Variationen zum Leitmotiv. Die Verführbarkeit, die Anfälligkeit des Menschen für den totalitären Wahn zählt zum Schrecklichsten, was der Zweite Weltkrieg gelehrt hat. Das Wissen darum, dass das Unglück von Europas Mitte seinen Lauf genommen hatte, steht dabei als Mahnung an die Lebenden und Kommenden, in ihrem Einsatz für Frieden, Freiheit und Menschenrechte nicht nachzulassen. Die Doppelgesichtigkeit des Fortschritts, die technologische Revolution und das Wissen um die Verführbarkeit des Individuums, die Zerstörungskräfte der modernen Technik haben seitdem die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmt. Das Kriegsende in Europa ist heute Geschichte, die ein Dreivierteljahrhundert, scheinbar weit, zurückliegt. Zugleich aber ist es eine Geschichte, die nicht aufhört, unsere Gegenwart mitzubestimmen und die viele Lehren parat hält, wie wir eine bessere, friedlichere und gerechtere Zukunft schaffen können. 
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